Eberhard Schulz: „Dafür sorgen, dass so etwas wie in Auschwitz nie wieder passieren kann“

Eberhard Schulz, Sprecher der Initiative „!Nie wieder“
Eberhard Schulz, Sprecher der Initiative „!Nie wieder“ (Foto: Joachim Puls).

27.01.2021 – Im Rahmen des 17. Erinnerungstages im deutschen Fußball gedenken viele Fan-Gruppen, Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga sowie die DFL Deutsche Fußball Liga und die DFL Stiftung gemeinsam mit der Initiative „!Nie wieder“ der Opfer des Nationalsozialismus. Im Fokus des Erinnerungstages, der an den Spieltagen rund um den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar stattfindet, stehen in diesem Jahr Menschen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität verfolgt wurden.

Im Interview erklärt Eberhard Schulz (80), Sprecher von „!Nie wieder“, wie die Initiative entstand und welche Ziele sie verfolgt.

Herr Schulz, wie ist es zu der Initiative „!Nie wieder“ gekommen?

Eberhard Schulz: Der Anstoß kam aus Italien. Dort hatte 2004 Riccardo Pacifici als Sprecher der jüdischen Gemeinde Roms mit dem italienischen Fußballverband einen Gedenktag für die mehr als 8000 italienischen Opfer der Shoah ins Leben gerufen. Alle Spieler und Schiedsrichter der Serie A und B liefen mit dem Trikot-Spruch „Per non dimenticare“ – auf Deutsch: „Lasst uns nicht vergessen“ – auf. Durch ein Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde ich auf die Geschichte aufmerksam. Als Fußball- und Demokratieliebhaber hat mich die italienische Aktion sofort angesprochen. Riccardo Pacifici, dessen Großeltern in Auschwitz ermordet wurden, bat darum, dass der Fußball in anderen Ländern Europas mit der „Per non dimenticare – Botschaft“ an die Opfer des Naziterrors erinnern und ein wehrhaftes Zeichen gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus, Neofaschismus, Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit setzen solle. Am 27. Januar 2004 unterzeichneten 40 Gottesdienstbesucher*innen einen Brief an die DFL und den DFB in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau. Darin wurde den beiden Organisationen vorgeschlagen, gemeinsam mit den Ideengeber*innen einen „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ ins Leben zu rufen, erstmals am Spieltag um den 27. Januar 2005, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Die Idee war stark. Elf Bundesliga-Clubs engagierten sich, verlasen die Stadiondurchsage vor dem Spiel und veröffentlichten den Grundsatztext im Stadionmagazin und auf ihren Homepages.

In diesem Jahr steht schon der 17. Erinnerungstag an. Was hat sich seit dem Start der Aktion verändert?

Schulz: Einige Fankurven und Ultras nahmen die Idee auf. Schon seit den Achtzigerjahren stellten sie sich gegen den zunehmenden Rechtsradikalismus in den Stadien. Diese jungen Mitglieder der Fußballfamilie spürten, dass es notwendig ist, sich mit kreativen Aktionen klar gegen Rechts zu positionieren. Sie verstanden, wie wichtig es ist, die preisgegebenen und ermordeten Mitglieder gewissermaßen in die Vereinsfamilie zurückzuholen. Dieser Aufklärungsprozess berührte auch die Vereine, die DFL und ihre Stiftung und den DFB. Zusammen mit den Fans, den Fanprojekten, den Bildungseinrichtungen erwuchs Schritt für Schritt eine bunte und starke Demokratiebewegung. Sie stärkt den Fußball und die Gesellschaft. In Europa ist das einzigartig.

Ist der deutsche Fußball besonders aufgefordert, sich seiner Geschichte zu Zeiten des Nationalsozialismus zu erinnern?

Schulz: Ja, denn der Fußball war Teil des Nationalsozialismus. Viele Vereine schlossen ihre jüdischen und kommunistischen Mitglieder schon im April 1933 aus. Einige dieser Vereine wurden durch den einzigartigen Walther Bensemann mitbegründet, der seinen „kicker“ auf Druck der Nazis verlassen musste und ins Schweizer Exil floh. Dort starb er ein Jahr später „am gebrochenen Herzen“. 1923 hatte er in einer seiner berühmten „Glossen“ die V. S. E., die Vereinigten Staaten von Europa, gefordert, als kämpferisches Gegenmittel zum Nationalismus, Rassismus und Militarismus. Die lähmende Dynamik der Verdrängung wirkte nach der Befreiung vom 8. Mai 1945 auch im Fußball. Dass man seine jüdischen, kommunistischen und queeren Vereinsmitglieder ebenso wie Angehörige der Sinti und Roma nicht geschützt und damit ihnen und ihren Familien unsagbares Leid zugefügt hatte, darüber war in den Jubiläumsfestschriften nichts zu lesen.

Alle sind aufgefordert, unsere demokratischen Werte zu schützen und dafür zu sorgen, dass so etwas wie in Auschwitz nie wieder geschehen kann. 

Es waren die Jungen in der Gesellschaft, und sie waren es auch im Fußball, die das luftundurchlässige Tuch der Verdrängung und Vertuschung wegzogen. Teile der Kurven, zusammen mit Einzelpersönlichkeiten, Historiker*innen und Journalisten*innen, interessierten sich und forschten zur Rolle des Fußballs im Nationalsozialismus. In großartigen Choreografien wurde unter anderem an ermordete Vereinsmitglieder erinnert. Dieser Aufklärungsprozess ist gelungen, zu Ende ist er nicht. Die Weiterschreibung dieses Aufklärungsprozesses ist in Zeiten der Pandemie und dem Anwachsen von Rechtsradikalismus, Demokratiefeindlichkeit und Europaverachtung notwendiger denn je. Alle sind aufgefordert, unsere demokratischen Werte zu schützen und dafür zu sorgen, dass so etwas wie in Auschwitz nie wieder geschehen kann. Der Fußball mit seinem wertvollen Schatz, dem „Spiel aller Spiele“, ist mit seinen Werten prädestiniert, sich für diese in seinem Einflussbereich und gesamtgesellschaftlich zu engagieren.

Im Zentrum des diesjährigen Erinnerungstages stehen Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Wie kommt es zu diesem Fokus?

Schulz: In der KZ-Gedenkstätte Auschwitz wird an alle Opfergruppen würdig erinnert. Für die Frauen und Männer, die die Nazis als „Abartige und Homosexuelle“ stigmatisierten und sie ermordeten, gibt es nichts dergleichen. In diesem Akt der Verweigerung setzt sich das Leiden queerer Menschen fort. Und weiter, der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit ihren queeren Mitmenschen ist bis heute an vielen Stellen bestimmt durch Häme und Gewalt. In den Konzentrationslagern waren sie es, die auf die unterste Stufe der Lager-Hierarchie gedrängt wurden, mit schrecklichsten Folgen. Ihr Leiden endete nicht mit Kriegsende. Ihre Ausgrenzung setze sich fort.

Es gehört zu den unveräußerlichen Werten unserer wunderbaren demokratischen Grundordnung, die eigene sexuelle und geschlechtliche Identität frei zu leben.

Erst 1994 wurde der von den Nazis ersonnene Paragraph 175 zu „homosexuellen Handlungen“ aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 64.000 Menschen waren bis dahin auf dessen Grundlage verurteilt worden. Die Menschen aus der sogenannten LGBTIQ+-Community (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer, Anmerkung der Redaktion) erleben sehr wohl die Kontinuität ihrer Bedrohung von 1933 bis heute. Das darf eine aufgeklärte Gesellschaft nicht zulassen. Warum? Weil es zu den unveräußerlichen Werten unserer wunderbaren demokratischen Grundordnung gehört, die eigene sexuelle und geschlechtliche Identität frei zu leben. Damit unsere queeren Freund*innen ihr Leben frei und unbedroht leben können, im Fußball und in der Gesellschaft, sollten sie sich auf unser Verständnis und unser Unterstützung verlassen können. Das bedeutet „Nie wieder“ und dafür steht die 17. Kampagne des „Erinnerungstages im deutschen Fußball“.