„Es geht darum, Wissen in der Gesellschaft zu verbreiten“

Dr. Henning Borggräfe, Abteilungsleiter Forschung und Bildung der Arolsen Archives
Foto: Arolsen Archives

28.01.2022 – Die Arolsen Archives, ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung, setzen sich für eine aktive Erinnerungsarbeit ein, die Gegenwart und Zukunft beeinflussen soll.

Im Interview erklärt Dr. Henning Borggräfe, Abteilungsleiter Forschung und Bildung der Arolsen Archives, wie diese übergreifende Aufgabe mit Projekten wie #everynamecounts und Broschüren wie „Fußballer im Fokus: Bildungsmaterial zu Sport, Verfolgung und Erinnerung“ erfüllt werden soll und weshalb das aktive Erinnern im Augenblick besonders wichtig ist.

Herr Dr. Borggräfe, rund um den 27. Januar wird derzeit mit der Initiative „!NieWieder“ an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und damit an das Ende des NS-Regimes erinnert. Den „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ gibt es seit 2004. Warum bleibt das Erinnern so bedeutsam?

Dr. Henning Borggräfe: Wir sind in einer Situation, die ich vor zehn Jahren nicht mehr für möglich gehalten hätte. Wir erleben in Deutschland seit einiger Zeit einen wiedererstarkten und auch mörderischen Antisemitismus und Rassismus. Wie in Hanau, wie in Halle. Diese Entwicklung lässt eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit besonders wichtig erscheinen.

Welchen Beitrag kann der Profisport dabei leisten? 

Borggräfe: Die Clubs haben eine große Anhängerschaft, eine sehr große Reichweite und eine besondere Bedeutung für ihre Regionen. Damit haben sie ganz andere Wirkmöglichkeiten als zum Beispiel wir. Es ist daher wichtig, sich als Verein zu positionieren und Farbe zu bekennen sowie Fans und Initiativen zu stärken, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und gegen Rassismus und Antisemitismus in der Gegenwart einsetzen. Die Gründe für Verfolgung sind ja nicht Geschichte. Es geht darum, Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie zu setzen.

Um selbst ein Zeichen zu setzen, haben Sie gemeinsam mit Borussia Dortmund die Broschüre „Fußballer im Fokus: Bildungsmaterial zu Sport, Verfolgung und Erinnerung“ veröffentlicht, in der Biografien verfolgter jüdischer Fußballer beschrieben sind. Wie ist die Zusammenarbeit mit dem BVB entstanden?

Borggräfe: Wir haben uns Anfang 2020 im Rahmen einer Veranstaltung zum „!NieWieder“-Erinnerungstag kennengelernt. Dort ist dann die Idee entstanden, gemeinsam etwas zu machen. Von Beginn an waren aber alle der Überzeugung, dass es dabei nicht nur um Fußballer des BVB gehen sollte, sondern um die in verschiedenen europäischen Ländern von den Nationalsozialisten verfolgten Fußballer.

Broschüre „Fußballer im Fokus: Bildungsmaterial zu Sport, Verfolgung und Erinnerung“
Foto: Arolsen Archives

Die Broschüre richtet sich vor allem an Fanclubs und Faninitiativen, die anhand der Biografien weitere Workshops veranstalten können. Ein Projekt also, das auch mit anderen Clubs vorstellbar wäre?

Borggräfe: Als Modell der Zusammenarbeit kann das sicherlich überall funktionieren. Ich denke aber, dass man das Forschungsfeld erweitern könnte. Zum Beispiel auf andere Vereinsmitglieder wie Ärzte, Trainer oder Präsidenten, die verfolgt wurden. Es gibt eine ganze Reihe, gerade jüdischer Verfolgter, die in solchen Funktionen aktiv waren. Oder den Fokus auf die Verbindung zwischen Stadt und Verein richten. Es wäre ein leichtes, zu jeder Stadt der 36 Proficlubs eine sehr große Zahl von Biografien Verfolgter zu recherchieren.

Gibt es in diesem Zusammenhang bereits Kooperationen?

Borggräfe: Ja, der SC Paderborn 07 zum Beispiel ist vergangenes Jahr auf die Kampagne zu #everynamecounts aufmerksam geworden. An dieser hat sich der Club unter anderem mit Social-Media-Aktivitäten und Bildungsangeboten beteiligt. Daraus ist dann auch eine zweijährige Kooperation entstanden: In diesem Frühjahr stellen wir vor der Benteler-Arena die Wanderausstellung „Stolen Memory“ aus. Dort geht es um die Besitztümer ehemaliger KZ-Häftlinge, die wir ihren Familien zurückgeben möchten. Der FC St. Pauli unterstützt ebenfalls die Kampagne #everynamecounts. Das sind zwei Beispiele. Ganz grundsätzlich hat sich bei den Clubs in Bezug auf die Erinnerungsarbeit in den vergangenen Jahren sehr viel getan. Dass die DFL dabei unter anderem als Motor und Organisator verschiedener Erinnerungsinitiativen wie zum Beispiel den Gedenkstättenfahrten agiert, ist besonders für die Vereine wertvoll, die dafür noch keine umfassenden eigenen Kapazitäten haben. Außerdem ermöglicht uns die DFL als Kooperationspartner, unsere Angebote über Workshops und Tagungen an die Vereine heranzutragen. Das hilft für Wissensaustausch und genauso für neue Impulse.

Mit der Kampagne #everynamecounts soll ein digitales Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus erstellt werden. Welche Wirkung hat eine solche Aktion?

Borggräfe: Es wird uns sicher nicht gelingen, durch die kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit Neonazis zu bekehren. Das wäre auch naiv zu glauben. Es geht vielmehr darum, das Wissen in der Gesellschaft über die Verbrechen und die Folgen von Rassismus und Antisemitismus zu verbreiten und vor allem bei jungen Menschen die Urteilsfähigkeit zu stärken. Sie zu befähigen, rechte Hetze und Relativierungen zu erkennen und für eine vielfältige demokratische Gesellschaft zu streiten.


Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Borggräfe.