„Wir haben immer nur Stück für Stück gedacht“

Drei Personen sitzen an einem Tisch in einem Restaurant. Am Tisch sitzen von links nach rechts Nina Schweppe und Regina Hillmann, die Vorsitzenden des Fanclubs „Sehhunde“. Im Vordergrund mit dem Rücken zum Betrachter gewandt sitzt Florian Reinecke, der das Interview führte.
Interview mit den Vorsitzenden des Fanclubs „Sehhunde“: Nina Schweppe (links) und Regina Hillmann.
Interview mit den Vorsitzenden des Fanclubs „Sehhunde“, Nina Schweppe (links) und Regina Hillmann.
  • Mehr als 20 Jahre Sehbehindertenreportage in Deutschland: Interview mit Nina Schweppe und Regina Hillmann, Gründungsmitglieder und Vorsitzende des Fanclubs „Sehhunde“

13.02.2020 – Im Jahr 1999 gab es zum ersten Mal in einem Bundesliga-Stadion eine spezielle Reportage für blinde und sehbehinderte Stadionbesucher. Heute bieten fast alle Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga einen solchen Service in ihrem Stadion an. Der bundesweit agierende Fanclub „Sehhunde“ war an der Entstehung und Entwicklung von zahlreichen Reportage-Projekten bei den Clubs beteiligt. Seit 1991 setzt er sich für die Interessen blinder und sehbehinderter Fans ein.

Nina Schweppe und Regina Hillmann sind Gründungsmitglieder und bis heute die Vorsitzenden der „Sehhunde“. Für sein Engagement erhielt der Fanclub im Oktober 2006 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Im Interview sprechen die beiden blinden Fans über die Geschichte der Sehbehindertenreportage in Deutschland, ihre Highlights aus 20 Jahren organisierter Blindenreportage und ihre Liebe zum Fußball, die so weit geht, dass sie für jedes Heimspiel des 1. FC Köln extra aus Norddeutschland anreisen.

Frau Schweppe, 1999 gab es die erste offizielle Sehbehindertenreportage in einem Bundesliga-Stadion. Damals waren Sie Ende 20 und schon lange Fan. Wie sind Sie zum Fußball gekommen?

Nina Schweppe: Durch die Familie. Mein Bruder ist vier Jahre älter und hatte eine Dauerkarte für den DSC Arminia Bielefeld. Mein erstes Spiel war Bielefeld gegen den FC Schalke 04. Ich war sechs oder sieben und wir hatten für mich keine Karte. Ich musste hinter meinem Vater hergehen und hielt mich an seinem Mantel fest. Und dann saß ich da ohne Karte im Stadion und es war alles ganz aufregend. Ich habe angefangen, die „Sportschau“ zu gucken und Radio zu hören. Anfang der Achtzigerjahre gab es eine Zeit, in der ich Pierre Littbarski sehr gut fand. In dieser Zeit habe ich begonnen, mich richtig dafür zu interessieren. Ich war dann erst einmal Köln-Fan.

Wann waren Sie das erste Mal im Müngersdorfer Stadion und wie war das Stadionerlebnis?

Schweppe: Das war 1983. Man kann das ja gar nicht mit heute vergleichen. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer im Stadion waren, aber man hatte reichlich Platz. Ich war mit meiner Freundin da und wir hatten uns vom Taschengeld Stehplatzkarten gekauft. Es waren aber viele Sitzplätze frei. Da hat mich meine Freundin an der Hand zu einem Ordner geführt. Der hat direkt gesagt: Kommt, dann setzt euch hierher – und dann hatten wir super Sitzplätze.

Und Ihre Freundin hat ihnen auch das Spielgeschehen geschildert?

Schweppe: Ja, soweit sie das konnte. Viel habe ich aber auch einfach die Atmosphäre genossen – also … was man damals Atmosphäre nannte. Da war das noch ganz anders, weil die Fans vor allem dann lautstark unterstützt haben, wenn die eigene Mannschaft im Ballbesitz war. So konnte man zumindest schon mal hören, wer den Ball hat.

Wie war das bei ihnen, Frau Hillmann?

Regina Hillmann: Ich stamme gebürtig aus der Nähe von Bremen und war durch meine Eltern Werder-Fan. Mein Vater hat sich sehr intensiv für Fußball interessiert. Bei mir beschränkte sich das erstmal auf die „Sportschau“ und Länderspiele im Fernsehen. Ich war in der Saison 1980/81 das erste Mal im Stadion, als Werder abgestiegen war und in der 2. Bundesliga Nord gegen Rot-Weiß Lüdenscheid gespielt hat. Werder hat 2:0 gewonnen, das weiß ich noch ganz genau. Erwin Kostedde hat beide Tore geschossen. Ich fand den Stadionbesuch so klasse, dass ich in den nächsten zwei, drei Jahren immer mindestens einmal pro Saison mit meinen Eltern hingefahren bin. 1985 habe ich von meinen Eltern eine Dauerkarte bekommen. Ich hatte dann fünf Jahre lang, wie auch mein Vater, eine Dauerkarte.

Wie haben sie die Spiele damals verfolgt?

Hillmann: Mein Vater hat reportiert, oder auch die Leute, die um uns herumsaßen. Das waren auch alles Dauerkarteninhaber. Ab 1985 wohnte ich in Hamburg im Internat, bin aber sowieso jedes Wochenende nach Hause gefahren und dort zu den Bundesliga-Spielen gegangen. Aber auch bei den Europapokalspielen mitten in der Woche bin ich nachmittags nach Bremen gefahren. Abends dann mit dem letzten Zug zurück und dann am nächsten Morgen wieder zur Schule. Da war ich schon ziemlich verrückt.

Sie sind in der Nähe von Bremen aufgewachsen, Frau Hillmann, Sie bei Bielefeld, Frau Schweppe. Wie kam es dazu, dass Sie sich zusammengetan haben?

Hillmann: Wir waren beide im Hamburg im Blinden-Jugendheim. Dort haben wir uns im Töpferraum kennengelernt und festgestellt, dass wir uns beide für Fußball interessieren.

Schweppe: Ich hatte mit einer Freundin, die auch FC-Fan war, eine Interviewanfrage an Christoph Daum gestellt. Offiziell für eine Schülerzeitung – aber die gab es ehrlich gesagt gar nicht. Wir bekamen damals eine Zusage und davon habe ich Regina erzählt. Das war die Zeit der großen Rivalität zwischen Köln und München.

Hillmann: Dann haben wir die Bayern angeschrieben und gefragt, ob wir nicht ein Interview mit Jupp Heynckes führen können. Wieder für eine nichtexistente Schülerzeitung – und wir bekamen ebenfalls eine Zusage.

Sie sind extra von Hamburg nach München gefahren?

Schweppe: Nein, das Interview war am Abend vor einem Auswärtsspiel in Bremen.

Hillmann: Dieses Interview mit Heynckes war für uns ein Startschuss, weil sich daraus einiges entwickelt hat. Er hat uns nach dem Gespräch nach München eingeladen. Und da haben wir Stephan Roth, einen Mitarbeiter der Geschäftsstelle kennengelernt, der sich um uns gekümmert hat. Er hat uns zum Abschied angeboten, dass wir uns bei ihm melden sollten, wenn wir mal wieder zum Fußball wollten. Er würde mit uns ins Stadion gehen und erzählen, was auf dem Platz passiert. So ging das erstmal los, dass wir in der Saison 1990/91 ein paar Mal nach München gefahren sind.

Schweppe: Das war gigantisch! Er saß die ganze Zeit neben uns und hat das ganze Spiel reportiert. Wir konnten uns die Spieltermine quasi aussuchen. Irgendwann sagte er dann zu uns: Wisst ihr, eigentlich müsstet ihr einen Bayern-Fanclub für Blinde gründen und ein Medium schaffen, wo wir blinde Menschen rund um den FC Bayern informieren können. Das war der Urknall für den Fanclub „Sehhunde“.

Hillmann: Im August 1991 haben wir damit angefangen.

Seit 1994 sind die „Sehhunde“ aber kein Bayern-, sondern ein bundesweiter Fanclub. Wie kam es dazu?

Schweppe: Der Bedarf war auf einmal da. Es haben sich Leute im Fanclub angemeldet, die gesagt haben: Ich brauche das zwar nicht für den FC Bayern, aber ich möchte einen Fanclub, in dem ich mit Blinden und Sehbehinderten zusammentreffe. Der Gedanke war, sich gegenseitig zu unterstützen. Das wurde einfach gesucht.

Bis zur ersten offiziellen Sehbehindertenreportage hat es noch ein wenig gedauert. Wie sahen die Aktivitäten der „Sehhunde“ zuvor aus?

Hillmann: Wir hatten ein jährliches Treffen, bei dem wir auch ein Spiel besucht haben, und eine Clubzeitung, die es etwa alle sechs Wochen auf Kassette gab.

Schweppe: Als die Veranstaltungen dann größer wurden und wir nicht genügend Begleiter hatten, die im Stadion die Reportage gemacht haben …

Hillmann: … damals gab es ja noch keine Technik – wir brauchten immer einen Begleiter für zwei Sehbehinderte …

Schweppe: … und da haben wir Jugendspieler der gastgebenden Vereine gewonnen, die sich während des Spiels zwischen zwei Blinde gesetzt und das Spiel reportiert haben. Das war natürlich super, denn die konnten das, und die hatten Lust darauf. Und der eine oder andere hat dann später selbst in der Bundesliga gespielt – Sebastian Deisler hat beispielsweise mal in Mönchengladbach ein Spiel für uns reportiert.

Wie kam es dazu, dass bei Bayer 04 Leverkusen in der Saison 1999/2000 das erste Projekt in Deutschland entstand?

Schweppe: Wir sind nach Leverkusen zu einem Interviewtermin mit Rudi Völler gefahren und haben gefragt, ob Bayer 04 nicht unser jährliches Treffen ausrichten wollte.

Schweppe: Fünf Tage vorher habe ich noch einmal bei seinem Büro angerufen, um den Termin bestätigen zu lassen. Kurt Vossen (ehemaliger Leiter der Fußballabteilung von Bayer 04 Leverkusen, im Jahr 2007 verstorben, d. Red.) hat den Hörer abgenommen. Daraufhin habe ich ihn kurzentschlossen eingeladen. Auf der Veranstaltung hat er uns dann erzählt, dass sie in England gesehen haben, wie blinde Menschen im Stadion Kopfhörer bekommen und das Spiel so verfolgen können. Und er hat gefragt, ob das nicht auch etwas für Deutschland wäre. Da haben wir natürlich alle applaudiert und uns gefreut wie Bolle.

Hillmann: Das war im April 1999. Kurz vor Saisonbeginn haben wir noch einmal nachgefragt und im August 1999 fand das erste größere Treffen statt, um die Details zu besprechen. Mitte Oktober ging es los. Bayer 04 Leverkusen gegen den SSV Ulm 1846 war das erste Spiel. Von Anfang an lief da alles. Burak Yildirim hat eine super Reportage gemacht. Er war damals Jugendtrainer bei Bayer und man hat direkt gemerkt, dass er viel von Fußball versteht.

Wenn Sie den Bogen von 1999 bis heute spannen: Haben sie mit dieser Erfolgsgeschichte der Sehbehindertenreportage gerechnet?

Hillmann: Wir haben immer nur Stück für Stück gedacht und nie einen großen Plan gemacht.

Schweppe: Wir haben einfach wie ein Maulwurf immer weiter und weiter gegraben. (lacht)

Wie hat sich das Stadionerlebnis für Sie in dieser Zeit geändert?

Schweppe: Es ist viel komfortabler geworden. So ist unsere Teilhabe gesichert. Früher mussten wir immer alles selber organisieren.

Das Gespräch führte Florian Reinecke

Regina Hillmann hat über ihre Erfahrungen das Buch “Fußball einmal anders gesehen” geschrieben, das im Kern-Verlag erschienen ist.

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