„Es ist unser aller Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten“

Porträt von Hans-Joachim Watzke, Vorsitzender der Geschäftsführung Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA
Hans-Joachim Watzke, Vorsitzender der Geschäftsführung von Borussia Dortmund
Foto: Getty Images/TF-Images

Borussia Dortmund engagiert sich seit Jahren im Kampf gegen Antisemitismus. Der Vorsitzende der Geschäftsführung, Hans-Joachim Watzke, über die Beweggründe und die Verantwortung des Profifußballs.

Herr Watzke, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ende Juni 2021 in Israel war, sagte er: „Der Antisemitismus ist nach wie vor in der Welt, und wir müssen ihn weiter bekämpfen, wo immer er sein hässliches Haupt erhebt.“ Was macht diesen Kampf auch heute noch so schwer – mehr als 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau?

Hans-Joachim Watzke: Zunächst einmal: Der Bundespräsident, den ich 2020 übrigens auf dem World Holocaust Forum in Yad Vashem getroffen habe, hat vollkommen recht. Es ist heute leider auch in Deutschland so, dass Jüdinnen und Juden mitunter Angst haben, sich in aller Öffentlichkeit zu ihrem Glauben zu bekennen. Viele haben Angst davor, sich mit der Kippa auf der Straße zu zeigen. Das ist mehr als alarmierend. Zwei Dinge spielen dabei aus meiner Sicht eine wesentliche Rolle. Erstens: Die inzwischen große Zeitspanne seit dem Ende der Nazidiktatur. Zweitens: Durch die Flüchtlingswelle 2015 hat sich die Bevölkerungsstruktur in Deutschland verändert. Seitdem gibt es in Teilen der Gesellschaft leider nochmals verstärkt diskriminierende und rassistische Tendenzen.

Im Mai 2021 kam es nach neuen Auseinandersetzungen im Nahostkonflikt auch in Deutschland zu Anti-Israel-Demonstrationen. Wie haben Sie die Vorkommnisse verfolgt?

Watzke: Ich war entsetzt. Es ist ja ein Unterschied, ob ich legitim auf inhaltlicher Basis gegen etwas protestiere oder ob ich offen Hass verbreite und Flaggen verbrenne. Letzteres darf es auf deutschem Boden nicht geben. Die historische Verantwortung, die Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit für Israel und seine Bürgerinnen und Bürger hat, muss immer Teil der Staatsräson bleiben. Das müssen wir immer wieder deutlich machen.

Hans-Joachim Watzke (vorn) während eines Besuchs der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Foto: Borussia Dortmund

Hat sich Ihrer Meinung nach die Wahrnehmung des Holocaust in Deutschland geändert?  

Watzke: Die Frage ist ja, ob man bereit ist, diesem Thema offen gegenüberzutreten? Das sehe ich bei manchen Menschen nicht mehr. Ich habe es selbst oft erlebt, wie erschütternd es ist, wenn Opfer von ihrem Leid in der NS-Zeit berichten. Das hat noch mal einen ganz anderen Effekt als Geschichtsbücher oder Fernsehdokumentationen. Aber wer in Deutschland antisemitischen Hass verbreitet, der hat meiner Meinung nach jedes Recht verwirkt, weiter in diesem Land zu leben. Da müssen alle demokratischen Parteien Flagge zeigen. Und auch ein Fußballclub wie Borussia Dortmund ist gefragt …

… um Zeichen zu setzen?

Watzke: Ich bin kein Freund punktueller Zeichen. Die haben oft nur Symbolcharakter. Ich bin ein großer Anhänger davon, nachhaltig zu handeln und Dinge zu verstetigen. Der BVB macht genau das seit mehr als einem Jahrzehnt im Bereich der Antidiskriminierungs- und Antirassismus-Arbeit.

Auf Initiative des Deutschen Freundeskreises Yad Vashem hat sich Borussia Dortmund im Jahr 2019 mit einer Summe von einer Million Euro am Bau des „Haus der Sammlungen“ beteiligt. Sie selbst sagten im Vorfeld, Sie möchten alles dafür tun, um sich mit dem BVB dort zu engagieren. Warum dieses Projekt?

Watzke: Yad Vashem ist für uns alle beim BVB immens wichtig. Nicht bloß weil wir inzwischen ein außergewöhnlich gutes Verhältnis zu den Verantwortlichen dort haben. Das „Haus der Sammlungen“ repräsentiert einfach alles, wofür wir in Dortmund arbeiten, wenn es um Erinnerungskultur geht. Die Ausstellung dort schafft es erzählerisch, aber auch architektonisch, einen Bogen zu spannen: von den unzähligen Tragödien der Holocaustopfer bis hin zu so etwas wie Hoffnung. Das müssen Menschen immer wieder sehen. Yad Vashem ist wie das Herz und das Gehirn des Gedenkens an die Opfer der Shoah. Und weil der BVB sich in seinem Engagement gegen Rassismus besonders dem Kampf gegen Antisemitismus widmet, hat das Projekt perfekt gepasst.

In Yad Vashem in Jerusalem wird an die Opfer des Naziregimes erinnert.
Foto: Borussia Dortmund

In der Gedenkstätte in Jerusalem sind Objekte aus dem Holocaust ausgestellt, darunter Tagebücher oder Kleidungsstücke von KZ-Inhaftierten. Welche Gefühle und Gedanken haben Sie bewegt, als Sie bei einem Ihrer Besuche durch die Ausstellung gingen?

Watzke: Ich muss gestehen, dass ich vorbereitet war. Das erste Mal in Auschwitz-Birkenau, das war für mich viel, viel schlimmer. Die Ausmaße dieses Vernichtungslagers, die Atmosphäre. Bedrückend. Hoffnungslos. Wenn du dort in den Baracken stehst und dir vorstellst, wie sehr die Häftlinge dort gefroren und gehungert haben. Wie sie vergast wurden. Das ist extrem belastend. Das raubt dir für eine gewisse Zeit den Glauben an das Gute im Menschen. Ich hatte noch Tage später Mühe, mich während der Arbeit zu konzentrieren. Yad Vashem ist als Ort des Erlebens deutlich zukunftsgewandter. Überhaupt zählen die Reisen nach Jerusalem zu den größten Erlebnissen meines Lebens. 

Warum?

Watzke: Weil mich auch die Menschen in Israel beeindrucken. Zu sehen, was aus diesem Staat geworden ist. Wie dort über die Parteigrenzen hinweg zum Teil ein sehr positiver Patriotismus herrscht. Auch deshalb ist es mein großer Wunsch, einmal mit unserer Mannschaft nach Israel zu reisen.  

Nicht nur in Israel engagiert sich Borussia Dortmund im Kampf gegen Antisemitismus. Was treibt Sie ganz persönlich – abgesehen von diesen Erlebnissen – dabei an?

Watzke: Schon als Kind und Jugendlicher habe ich mich sehr für die jüdische Geschichte interessiert und mich mit dem Nationalsozialismus sowie mit dem Holocaust, dem größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, auseinandergesetzt. Und ich habe miterlebt, wie in den 1960er Jahren bei einigen älteren Menschen noch immer ein latenter Judenhass vorherrschte, auch in der Sprache – das hat mich erschüttert. Daraus ist eine geistige Grundhaltung entstanden: Ein solches Leid darf dem jüdischen Volk nie wieder geschehen.

Die DFL-Mitgliederversammlung hat im März 2021 einstimmig entschieden, die Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, der IHRA, zu übernehmen. Damit setzen sich die 36 Proficlubs deutlich und unmissverständlich gegen jede Erscheinungsform von Antisemitismus ein.

Watzke: Es ist sehr gut, dass man diese Definition unterstützt. Ich bin dafür sehr dankbar. Die DFL setzt damit ein wichtiges, nachhaltiges Zeichen, auch an die Proficlubs. Entscheidend ist, dass nach dieser Definition nun auch gelebt und gehandelt wird.

Hans-Joachim Watzke und Daniel Lörcher, Leiter der Abteilung Corporate Responsibility beim BVB, in Gedenken an die Opfer des Holocaust in Monowitz.
Foto: Borussia Dortmund/Alexandre Simoes

Neben anderen Proficlubs bietet der BVB ebenfalls seit Jahren Bildungsfahrten an, die auch von der DFL unterstützt werden – Reisen in ehemalige Konzentrationslager. Welche Effekte wünschen Sie sich?

Watzke: Wer daran einmal teilgenommen hat, wer mit uns in Auschwitz, in Sobibor, in Dachau, Belzec oder anderen ehemaligen Konzentrationslagern war und sich der Shoah anschließend immer noch emotional entziehen kann, dem ist nicht mehr zu helfen. Ich glaube aber, das ist ein sehr kleiner Kreis von Unbelehrbaren. 

Sie sagen, als Fußballclub könne man sich nicht nur darüber identifizieren, dass man versucht, Tore zu schießen und hinten keines reinzukriegen. Was können die Proficlubs noch für eine lebhafte Erinnerungskultur tun?  

Watzke: Der Kampf gegen Antisemitismus muss in Deutschland von der ganzen Gesellschaft geführt werden. Der Fußball kann und muss sich aber ebenfalls sehr deutlich positionieren. Es ist die große Aufgabe eines großen Clubs, politisch – nicht parteipolitisch – orientierend zu wirken. Die Strahlkraft zu nutzen, Menschen mitzunehmen.

Wie gelingt es dabei, glaubwürdig zu sein und zu bleiben?

Watzke: Du darfst als Club aus diesem Engagement keinen wirtschaftlichen Nutzen ziehen. Und du musst immer weitermachen. Sie können sich vielleicht denken, was ich nach dem Bekanntwerden unseres Engagements in Yad Vashem in einigen Briefen lesen musste. Aber das darf dich nicht berühren, geschweige denn aufhalten. Sonst hast du keinen Erfolg. Sind wir ehrlich: Unser nachhaltiges Wirken gegen Antisemitismus kostet viel Arbeitskraft und viel Geld. Bei Borussia Dortmund sind derzeit allein vier Personen dauerhaft mit diesem Thema beschäftigt. Daniel Lörcher, unser Leiter der Abteilung Corporate Responsibility, weilte auch 2021 wieder in Jerusalem. Er stand dort neben dem israelischen Premierminister Naftali Bennett auf der Speaker-Liste beim 7th Global Forum for Combating Antisemitism. Natürlich sind wir ein großer Club, und deshalb können wir das Thema kommunikativ auch intensiv begleiten. Aber, und jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt, auch die ganz kleinen Schritte, die immer wiederkehrenden Gesten, helfen immens. Und davon würde ich mir noch mehr wünschen.

Wie schafft es Borussia Dortmund, gerade junge Menschen für das Thema zu sensibilisieren?

Watzke: Wir stellen an vielen Punkten fest, dass das gelingt. Ein Beispiel: Wir hatten im Januar 2020 die israelische Schriftstellerin Halina Birenbaum im SIGNAL IDUNA PARK zu Gast, eine Überlebende der Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz-Birkenau. Sie hat vor mehr als 500 Menschen, jung und alt, ihre Geschichte erzählt. Darüber hinaus haben wir mit dem BVB-Lernzentrum als Teil des „Lernort Stadion“-Netzwerks bis heute Tausende Jugendliche für das Thema sensibilisiert. Letztlich muss jeder BVB-Fan, jedes Vereinsmitglied wissen: Wer nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht, der hat in diesem Verein keinen Platz. Und Antisemitismus geht vor diesem Hintergrund einfach gar nicht.

Im Juli 2021 verstarb mit Esther Bejarano in Hamburg eine weitere Zeitzeugin des Naziregimes, die auch oft bei Ihnen in Dortmund zu Gast war. Ist das Fehlen dieser Stimmen das größte Problem im Kampf gegen das Vergessen?

Watzke: Ein großes Problem, ganz klar. Jeder und jede Überlebende ist ein Wunder. Ihre Schilderungen werden fehlen. Aber es ist unser aller Aufgabe, andere Wege, andere Formate zu finden, um die Erinnerung wachzuhalten. Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch weiterhin gelingen wird. Nicht nur weil wir dazu aufgrund der deutschen Geschichte verpflichtet sind. Sondern weil wir Menschen sind.   

Herr Watzke, vielen Dank für dieses Gespräch.

Hintergrund: Das Interview ist zunächst in Ausgabe 4|21 des DFL MAGAZINS erschienen und wurde von Chefredakteur Christian Paul geführt. Das DFL MAGAZIN ist auch als E-Paper für Smartphone und Tablet kostenlos verfügbar. Die App dazu kann im App Store (iOS) oder bei Google Play (Android) heruntergeladen werden.